Allgemeines

Als vorläufige Festnahme bezeichnet man nach § 127 Abs. 1 Strafprozessordnung (StPO) die Befugnis, einen anderen Menschen vorübergehend festzuhalten. In § 127 Abs. 1 StPO heißt es: „Wird jemand auf frischer Tat betroffen oder verfolgt, so ist, wenn er der Flucht verdächtig ist oder seine Identität nicht sofort festgestellt werden kann, jedermann befugt, ihn auch ohne richterliche Anordnung vorläufig festzunehmen.“

Aus dem Wortlaut („jedermann“) ergibt sich, dass diese Befugnis nicht nur Hoheitsträgern, also zum Beispiel Polizei und Ordnungsamt zusteht, sondern auch Privatpersonen. Sicherheitsmitarbeiter stehen zu ihren Auftraggebern in einem privatwirtschaftlichen Verhältnis und gelten daher als Privatpersonen. § 127 Abs. 1 StPO konstituiert für Bewachungsdienstleister somit eine wichtige Rechtsgrundlage, um Straftaten am Schutzobjekt aufzuklären.

Normzweck

Sinn und Zweck der vorläufigen Festnahme ist die Strafverfolgung. Es geht darum, eine sich bereits zugetragene Straftat aufzuklären. § 127 Abs. 1 StPO unterscheidet in eine Festnahme zu Zwecken der Anwesenheitssicherung einerseits, und eine Festnahme zur Identitätsfeststellung andererseits.

Die Entstehung von Schäden gegen ein geschütztes Rechtsgut soll nicht unterbunden werden. Mit anderen Worten gewährt § 127 Abs. 1 StPO keine Verteidigungsrechte. Befugnisse einer Sicherheitskraft zur (physischen) Verteidigung gegen feindliche Fremdeinwirkungen ergeben sich stattdessen aus.:

Das in § 127 StPO enthaltene Festnahmerecht stellt einen sogenannten Rechtfertigungsgrund dar. Wer einen anderen Menschen gegen seinen Willen festhält, nimmt ihm seine Fortbewegungsfreiheit. Dies ist grundsätzlich gemäß § 239 Abs. 1 StGB (Freiheitsberaubung) strafbar. In der Ausnahmekonstellation des § 127 StPO handelt der Sicherheitsmitarbeiter jedoch gerechtfertigt. Das Festnahmerecht schützt die Mitarbeiter folglich vor einer eigenen strafrechtlichen Verfolgung.

Voraussetzungen

§ 127 Abs. 1 StPO enthält strenge Voraussetzungen. Diese lassen sich aufteilen in: 

Eine Festnahmelage liegt vor, wenn ein Sicherheitsmitarbeiter einen Straftäter auf frischer Tat ertappt. Des Weiteren muss der Täter entweder der Flucht verdächtig sein oder dessen Identität unbekannt sein. In der Praxis sind häufig beide Voraussetzungen erfüllt, also mit anderen Worten ist ein dem Sicherheitsmitarbeiter unbekannter Täter zugleich fluchtgefährdet. Der Begriff der „Tat“ entspricht dem Tatbegriff des StGB. Das heißt es muss eine Straftat in Form eines Vergehens oder Verbrechens vorliegen, § 11 StGB. Davon streng zu trennen sind Ordnungswidrigkeiten. Niemand darf zum Beispiel wegen Überquerens einer roten Ampel auf Grundlage des § 127 Abs. 1 StPO festgehalten werden.

Jemanden auf „frischer Tat betreffen“ setzt einen engen zeitlichen und räumlichen Zusammenhang voraus. Ein Sicherheitsmitarbeiter muss den Täter also grundsätzlich am Tatort festhalten. In Fluchtfällen kann der Anwendungsbereich möglicherweise ausgedehnt werden. Dies ist allerdings seit Jahren in der Rechtspraxis umstritten. Nicht minder umstritten ist die Frage, ob die Straftat tatsächlich begangen sein muss oder bereits dringender Verdacht ausreicht.

Besondere Vorsicht ist zudem bei Minderjährigen geboten. Jugendliche Täter, welche das vierzehnte Lebensjahr noch nicht vollendet haben, sind gemäß § 19 StGB strafunmündig. Demgemäß ist eine Strafverfolgung ausgeschlossen. Dagegen ist eine Strafverfolgung ab Vollendung des 14. Lebensjahres möglich. Daher ist hier eine vorläufige Festnahme möglich.

Der Festnahmegrund Fluchtverdacht ist erfüllt, wenn der handelnde Sicherheitsmitarbeiter davon ausgehen kann, dass sich der Täter der Strafverfolgung zu entziehen versucht. Dies ist zum Beispiel der Fall, wenn der Täter Anstalten macht, sich vom Tatort zu entfernen. Die zweite Alternative (Festnahme zur Identitätsfeststellung) ist erfüllt, wenn der Täter keine Ausweispapiere inkl. aktueller Wohnanschrift bei sich führt oder eine Aufklärung seiner Person verweigert. 

Umfang der Festnahmehandlung

Strenge Voraussetzungen sind bei dem Umfang der Festnahmehandlung zu beachten. Sicherheitskräfte dürfen nur in Ausnahmefällen physische Gewalt anwenden. Ein festes Anpacken oder Anfassen sind regelmäßig zulässig. Intensive Eingriffe, die ihrerseits das Begehen weiterer Straftaten beinhalten (z.B. „K.O.-Schlagen“ des Täters), sind prinzipiell nicht von § 127 Abs. 1 StPO und sind lediglich in Ausnahmefällen bei schweren Straftaten rechtskonform.

Bei Bagatellstraftaten (z.B. Diebstahl einer geringwertigen Sache) kann sich im Einzelfall überhaupt die Frage ergebe, ob eine Handlung zur Fluchtverhinderung in einem angemessenen Verhältnis zur Schwere der Tat steht.

Irrtümliche Festnahme

Besondere Schwierigkeiten ergeben sich, wenn eine Sicherheitskraft in irriger Annahme die Voraussetzungen des § 127 Abs. 1 StPO für erfüllt hält. Dann stellt sich die Frage, ob dieser Irrtum zu einer Folgestrafbarkeit des Sicherheitsmitarbeiters führen kann oder nicht.

Beispiel: A sieht aus seinem Fenster auf die Straße. Plötzlich sieht er den B die Straße entlang rennen, und die ältere Frau F schreit „haltet den Dieb“. A stürmt nach draußen, holt B ein, und wirft ihn zu Boden. Dann stellt sich jedoch heraus, dass die F nicht den B meinte, sondern den C, der in die andere Richtung gelaufen war. B war lediglich gerannt, um seinen wegfahrenden Bus noch zu erwischen.

Nach einer Auffassung bleibt die Festnahme eines Unschuldigen folgenlos, denn es sei sinnwidrig, Personen zu verurteilen, die mit gutem Vorsatz handeln wollten. Weil die betroffene Sicherheitskraft an sich rechtstreu handeln wollte, entfiele das Unrecht der Tat. Einer Gegenauffassung nach ist der Festnehmer verantwortlich. So läge das Irrtumsprivileg ausschließlich bei Amtsträgern, also der Polizei in diesem Falle. Wenn ein Richter nach der zweiten Meinung urteilt, wären leichte Körperverletzung und Freiheitsberaubung folglich nicht gerechtfertigt. Im Gutachten würde jedoch, unabhängig von den zwei Auffassungen, eine Verurteilung wegen Irrtumslage und fehlendem Vorsatz grundsätzlich nicht infrage kommen.

Zusammenfassung

Zusammengefasst bevollmächtigt § 127 Abs. 1 StPO Privatpersonen in Ausnahmefällen mit polizeirechtlichen Befugnissen. Das Recht soll notfalls durch Private verteidigt werden. Die unternommenen Handlungen (ggf. Leichte Körperverletzung oder Freiheitsberaubung) müssen im Gleichgewicht mit der Tat stehen, um durch die vorläufige Festnahme gerechtfertigt werden zu können. Letztendlich wird durch geringes Unrecht eine viel größere Rechtswidrigkeit verhindert.