Wortlaut § 35 StGB

(1) Wer in einer gegenwärtigen, nicht anders abwendbaren Gefahr für Leben, Leib oder Freiheit eine rechtswidrige Tat begeht, um die Gefahr von sich, einem Angehörigen oder einer anderen ihm nahestehenden Person abzuwenden, handelt ohne Schuld. Dies gilt nicht, soweit dem Täter nach den Umständen, namentlich weil er die Gefahr selbst verursacht hat oder weil er in einem besonderen Rechtsverhältnis stand, zugemutet werden konnte, die Gefahr hinzunehmen; jedoch kann die Strafe nach § 49 Abs. 1 gemildert werden, wenn der Täter nicht mit Rücksicht auf ein besonderes Rechtsverhältnis die Gefahr hinzunehmen hatte.

(2) Nimmt der Täter bei Begehung der Tat irrig Umstände an, welche ihn nach Absatz 1 entschuldigen würden, so wird er nur dann bestraft, wenn er den Irrtum vermeiden konnte. Die Strafe ist nach § 49 Abs. 1 zu mildern.

Kurzerklärung 

Der entschuldigende Notstand ist nach § 35 StGB ein Entschuldigungsgrund für das Begehen einer Straftat, um damit eine Gefahr für das eigene Leben abzuwenden. Durch § 35 StGB entfällt die Schuld des Täters. Weil er durch die Norm entschuldigt ist, kommt eine eigene Strafbarkeit nicht in Betracht. Die Norm schützt somit gewerbliche Sicherheitskräfte, falls sie körperliche Gewalt zur Verteidigung anwenden müssen.

Eine Entschuldigung setzt allgemein voraus: 

  • Notstandslage
  • Notstandshandlung
  • Verteidigungswille

Hintergrund

Wer sich physisch gegen einen Angriff oder eine Gefahr zur Wehr setzt, verwirklicht damit in der Regel zahlreiche Straftatbestände. Dazu zählen typischerweise Körperverletzungsdelikte (§§ 223 ff. StGB) oder Sachbeschädigung, § 303 StGB. Doch die betroffene Sicherheitskraft soll neben der Gefahr nicht noch zur Zielscheibe einer Strafverfolgung werden. Daher enthält die Rechtsordnung Mechanismen, um eine eigene Strafbarkeit unter strengen Voraussetzungen entfallen zu lassen. 

Um sich überhaupt strafbar zu machen, müssen drei Voraussetzungen erfüllt sein: der Täter muss einen gesetzlichen Tatbestand rechtswidrig und schuldhaft verwirklicht haben. Zahlreiche Normen lassen im Falle eines Angriffes oder einer Gefahr bereits die Rechtswidrigkeit entfallen. Es entfällt in zahlreichen Fällen somit die praktische Notwendigkeit zur Klärung der Schuldfrage. Verglichen mit Notwehr, Nothilfe und einem rechtfertigenden Notstand (§§ 32, 34 StGB) kommt § 35 StGB daher seltener zur Anwendung. 

Sinn und Zweck

Die Vorschrift dieses Paragraphen beruht auf der Interessenabwägung und der Unzumutbarkeit.  Dies bedeutet, dass aufgrund des Selbsterhaltungstriebs oder der Beziehung zu nahestehenden Personen, der Schuldvorwurf für eine bei der Verteidigung begangene Straftat nicht ausreichend ist und durch die Umstände vermindert wurde. Dies wird mit der „seelischen Zwangslage“ und der „Unrechtsverminderung“ durch die Rettungshandlung begründet.

Unterschiede zum rechtfertigenden Notstand

Wie bereits erwähnt führt der rechtfertigende Notfall zum Wegfall der Rechtswidrigkeit, während § 35 StGB den Täter entschuldigt, ihm also seine Schuld „nimmt“. Im Übrigen ist der Anwendungsbereich des entschuldigenden Notstandes enger. Bei § 34 StGB ist grundsätzlich jedes rechtlich geschütztes Interesse notstandsfähig. 

§ 35 StGB ist dagegen beschränkt auf Gefahren gegen Leben, Leib oder Freiheit. Außerdem kann der Entschuldigungsgrund lediglich für die handelnde Sicherheitskraft selbst, einen Angehörigen oder eine nahe stehende Person in Anspruch genommen werden.

Voraussetzungen

Die Grundvoraussetzung für einen entschuldigenden Notstand ist eine Notstandslage. Dies setzt eine nicht anders abwendbare Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit voraus. Der Begriff der Gefahr ist deckungsgleich mit „Gefahr“ in § 34 StGB (rechtfertigender Notstand). Siehe dazu den Artikel „Notstand“. Durch die Begriffe Leib und Leben werden körperliche Einwirkungen in den Schutz mit einbezogen. Eine psychologisch bedingte Gefahr ist dagegen nicht nach § 35 StGB entschuldbar. Der Freiheitsbegriff ist im Sinne von § 35 StGB nur auf die Freiheit der Fortbewegung zu beschränken. Eine Einschränkung der Willensfreiheit (Nötigung) wird von § 35 StGB nicht geschützt. Die Gefahr muss gegenwärtig sein und eine unmittelbare Bedrohung für die angegriffene Person darstellen. Gegenwärtig bedeutet, dass die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintrittes hoch ist und sich zeitnah realisiert, sofern keine Gegenmaßnahmen unternommen werden.

Die Notstandshandlung darf durchgeführt werden, um neben dem eigenen Leben auch das Leben nahestehender Personen (Freunde und Familie) zu schützen. Die Maßnahme muss im Bereich des Erforderlichen liegen. Eine Maßnahme ist erforderlich, wenn keine milderen Mittel zur Gefahrenbeseitigung zur Seite steht. Man spricht vom sogenannten „Prinzip des Interventionsminimums“. Es müssen aber nur solche milderen Mittel berücksichtigt werden, die gleichermaßen geeignet sind. 

Zumutbarkeit

Der Täter kann nur vollends entschuldigt werden, wenn ein Aushalten der Gefahr ihm nicht zugemutet werden kann. Nach § 35 S. 2 StGB ist von einer Zumutbarkeit auszugehen, wenn der Täter die Gefahr selbst durch pflichtwidriges und zurechenbares Vorverhalten verursacht hat. Beispiel: eine Sicherheitskraft provoziert einen tätlichen Angriff durch Beleidigung. 

Des Weiteren kann die Zumutbarkeit sich aus einem „besonderen Rechtsverhältnis zum Täter“ ergeben. Ein solches Rechtsverhältnis ergibt sich zum Beispiel aus einem besonderen familiären Näheverhältnis. So können sich enge Familienangehörige grundsätzlich nicht auf einen entschuldigenden Notstand einander berufen. 

Abgrenzung zum Irrtum

Denkt eine Person fälschlicherweise, sie befände sich in einer Notstandslage und begeht aufgrund dessen eine kriminelle Handlung, bemisst sich das Strafmaß nach der Vermeidbarkeit des Irrtums. Die Vermeidbarkeit richtet sich nach objektiven Maßstäben der Fahrlässigkeit. Die Unvermeidbarkeit des Irrtums führt zur Straflosigkeit. Ein vermeidbarer Irrtum ist strafmildernd zu berücksichtigen, § 35 Abs. 2 StGB.