Herleitung und Funktion

Die Bezeichnung verhältnismäßig ist ein wertender Ausdruck, welcher sich im engeren Sinne auf das Verhältnis zwischen einem verfolgten Ziel und der Intensität des Mittel bezieht. Ob etwas in Verhältnis steht, wird in der Rechtsordnung unter dem Oberbegriff Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zusammengefasst. Dieser Grundsatz leitet sich im Wesentlichen aus dem Rechtsstaatsprinzip, Art. 20 Abs. 3 GG und den Freiheitsgrundrechten ab, Art. 2ff. GG. Durch den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit sollen die schutzwürdigen Interessen des Individuums mit den Interessen der Gemeinschaft in Einklang gebracht werden. 

Das Prinzip ist von Verfassungsrang. Es wird in zahlreichen Normen besonders ausgeprägt beziehungsweise konkretisiert. Dazu gehört etwa das staatliche Gefahrenabwehrrecht. Aber auch solche Verteidigungsrechte, auf welche sich private Sicherheitskräfte berufen können, s.u.

Allgemeine Bestandteile

Ob eine hoheitliche, also staatliche Maßnahme, verhältnismäßig ist, richtet sich nach vier Voraussetzungen. Diese lauten zusammengefasst: 

Zunächst einmal können nur solche Maßnahmen verhältnismäßig sein, welche einen legitimen Zweck verfolgen. Also solche Zwecke, deren Erfüllung von der Rechtsordnung entweder gewünscht oder sogar explizit vorgegeben ist. Zum Beispiel die staatlichen Pflichten, Gesundheit und Körper der Staatsbürgerinnen und Bürger zu schützen. Ein Zweck ist illegitim, wenn er im Widerspruch zur Rechtsordnung stünde. Also v.a. willkürliche oder rechtsmissbräuchliche Vorhaben. 

Sodann muss das angewandte Mittel auch geeignet sein, den legitimen Zweck zu erreichen. Der Begriff der Geeignetheit ist deckungsgleich mit der speziellen Ausprägung im Notwehrrecht, § 32 Abs. 1 StGBs, s.u.. Danach ist jede Maßnahme geeignet, welche das verfolgte Ziel zumindest fördern kann. 

Ferner muss die Maßnahme erforderlich sein. Erforderlichkeit setzt voraus, dass unter mehreren, gleichermaßen in Betracht kommenden Mitteln, kein milderes zur Verfügung steht. Dieser Grundsatz beinhaltet folglich zweierlei. Einerseits wird damit dem Effektivitätgrundsatz Rechnung getragen. Demnach ist grundsätzlich das effektivste Mittel vorzugswürdig. Andererseits ist auch der Minimalgrundsatz zu beachten. Ein Mittel ist überflüssig, wenn dasselbe durch eine geringere Intervention erreicht werden könnte. 

Schließlich muss das geeignete und erforderliche Mittel auch angemessen sein. Dieser finale Prüfungspunkt beinhaltet die strengsten Voraussetzungen der Verhältnismäßigkeit. Er besagt, dass der beabsichtigte Erfolg nicht außer Verhältnis zur Schwere des Eingriffs stehen darf. Hier erfolgt eine echte Abwägung, indem die Folgen bei Vornahme beziehungsweise Nicht-Vornahme miteinander abgewogen werden. Nur wenn die Interessen an Herbeiführung des Ziels überwiegen, ist das Mittel verhältnismäßig. 

Einschränkungen im Gefahrenabwehrrecht

Sämtliche staatliche Maßnahmen, insbesondere der Erlass von Gesetzen und deren Ausführung, sind dem Prinzip der Verhältnismäßigkeit unterworfen. Eine Maßnahme, welche diesen Grundsatz missachtet oder dagegen verstößt, ist rechtswidrig. 

Dennoch ist das oben dargestellte Schema nicht „starr“ anzuwenden. Dies würde im Gefahrenabwehrrecht sonst dazu führen, dass es der Polizei- und Ordnungsbehörden an der notwendigen Flexibilität fehlte. Im Übrigen ist eine konsequente Abwägung in dem gebotenen Umfang nicht immer möglich. Bei Gefahr im Verzug besteht etwa dringender Handlungsbedarf.

So bestehen Anpassungen und Einschränkungen des Grundsatzes für hoheitliches Handeln zur Gefahrenabwehr. Ob ein Mittel angemessen ist, richtet sich dort primär nach dem Grundsatz der Effektivität der Gefahrenabwehr. Es kommt hier gerade nicht zu einer strengen Abwägung. Stattdessen ist das effizienteste Mittel vorzugswürdig. Also solches, welches die Gefahr am günstigsten und sichersten beseitigen kann. Eine etwaige Disproportionalität, also „Unbalance“ zwischen den abzuwägenden Interessen, kann vom Betroffenen nachträglich anhand von Schadensersatzansprüchen geltend gemacht werden. 

Die Einschränkungen im Gefahrenabwehrrecht gelten zwar für Beamte. Darauf können sich gegebenfalls auch private Sicherheitskräfte berufen, wenn sie als Beliehen oder Verwaltungshelfer im Rahmen der staatlichen Gefahrenabwehr tätig werden. Solche sogenannten PPPs (Public Private Partnership) finden sich beispielsweise im Feld der Sicherheit des zivilen Luftfahrtverkehrs. 

Verhältnismäßigkeit bei den Jedermannsrechten

Das Prinzip verhältnismäßigen Handeln gilt nicht nur für staatliche Beamte. Es ist auch Gegenstand solcher Verteidigungsrechte, die jedermann zustehen. Diese Jedermannsrechte stellen das rechtliche Gerüst für die Anwendung physischen Zwangs durch gewerbliche Wachkräfte dar.  

Dazu gehören insbesondere: 

Die Verhältnismäßigkeit ist bei den jeweiligen Rechtfertigungsgründen in unterschiedlicher Intensität zu beachten. An der Spitze steht § 34 StGB. Der rechtfertigende Notstand setzt eine strenge Güterabwägung voraus: 

Wer in einer gegenwärtigen, nicht anders abwendbaren Gefahr (…) eine Tat begeht, um die Gefahr von sich oder einem anderen abzuwenden, handelt nicht rechtswidrig, wenn bei Abwägung der widerstreitenden Interessen, namentlich der betroffenen Rechtsgüter und des Grades der ihnen drohenden Gefahren, das geschützte Interesse das beeinträchtigte wesentlich überwiegt. Dies gilt jedoch nur, soweit die Tat ein angemessenes Mittel ist, die Gefahr abzuwenden.“

Aus dem Wortlaut ergibt sich ausdrücklich, dass auch die letzte und strengste Ebene der Verhältnismäßigkeit gewahrt werden muss. Nur angemessene Mittel der Verteidigung sind von § 34 StGB gerechtfertigt. Dabei ist eine Besonderheit zu beachten: aus der Würde des Menschen gem. Art. 1 Abs. 1 GG folgt die Unabwägbarkeit menschlichen Lebens. Folglich ist die Tötung einer anderen Person zu Verteidigungszwecken niemals durch § 34 StGB gerechtfertigt. 

Mildere Maßstäbe gelten wiederum bei der Notwehr. Vergleiche dazu die Definition in § 32 StGB: 

Wer eine Tat begeht, die durch Notwehr geboten ist, handelt nicht rechtswidrig. Notwehr ist die Verteidigung, die erforderlich ist, um einen gegenwärtigen rechtswidrigen Angriff von sich oder einem anderen abzuwenden.

Dem Wortlaut nach wird zwar die Erforderlichkeit der Intervention vorausgesetzt. Also das mildeste bei gleichermaßen geeigneten Mittel zur Abwehr des Angriffs. Eine strenge Güterabwägung findet hier aber nicht statt. Daher ist in Ausnahmefällen theoretisch auch die Tötung eines anderen Menschen vom Umfang der Erlaubnisnorm gedeckt. Daher bezeichnet der BGH § 32 StGB mitunter als „scharfes Schwert“. 

Doch auch die Notwehr ist gewissen Grenzen unterworfen. Aus der Formulierung „Verteidigung, die (…) geboten ist“ leitet sich eigenständiger Prüfungspunkt ab. Die Gebotenheit der Verteidigung besagt, dass das Notwehrmittel nicht in einem krassen Missverhältnis zum Erhaltungsinteresse des bedrohten Gutes stehen darf. Hier findet zwar keine strenge Gegenüberstellung statt. Aber dennoch sind sozial-ethische Mindestanforderungen zu beachten. 

So ist eine Verteidigung durch Notwehr prinzipiell nicht geboten ,wenn der Angriff von erkennbar schuldlosen Personen (zum Beispiel stark Betrunkenen oder Berauschte oder Kinder) oder der eigenen Familie ausgeht. Ebenso ist die Notwehr nach überwiegender Ansicht der Rechtsprechung nicht geboten, wenn der Angriff provoziert wurde.